Die Kultur der australischen Aborigines beruht ganz und gar auf der Erinnerung
an den Ursprung des Lebens. Gemäß neuesten Erkenntnissen sind ihre
Schöpfungsgeschichte und das daraus abgeleitete Weltbild rund
einhundertfünfzigtausend Jahre alt.
Die Aborigines nennen die Kräfte und Mächte, die die Welt geschaffen haben, ihre
«Creative Ancestors» - ihre Schöpferischen Ahnen. Sie sind der Überzeugung, daß
unsere wunderbare Weit nur in Übereinstimmung mit der Kraft, der Weisheit und
den Absichten dieser ersten Ahnen so perfekt geschaffen werden konnte. Während
der Epoche, in der dies geschah - der Traumzeit -, bewegten sich die Ahnen über
eine kahle, eintönige Fläche, ähnlich wie auch die Aborigines durch ihr riesiges
Land wandern. Die Ahnen zogen hierhin und dorthin, sie jagten, schlugen ihr
Lager auf, kämpften und liebten, und so schufen sie aus einem formlosen Land
eine topographische Landschaft. Vor ihren Wanderungen legten sie sich schlafen
und träumten die Abenteuer und Ereignisse des folgenden Tages. Auf diese Weise,
indem sie ihre Träume in die Tat umsetzten, schufen die Ahnen Ameisen,
Grashüpfer, Emus, Krähen, Papageien, Wallabys, Känguruhs, Echsen, Schlangen,
alle Nahrung sowie die Pflanzen. Sie schufen alle Elemente der Natur, die Sonne,
den Mond und die Sterne, und sie schufen auch die Menschen, die Stämme und
Clans. All dies wurde von den Ahnen gleichzeitig erschaffen, und jedes Ding
konnte sich in ein anderes verwandeln. Eine Pflanze konnte zu einem Tier werden,
ein Tier zu einer Landschaftsform, eine Landschaftsform zu einem Mann oder einer
Frau. Ein Ahne konnte zugleich Mensch und Tier sein. Diese Umwandlungen gingen
hin und her, je nachdem, wie es die Geschichten der
Traumzeit verlangten. Alles wurde aus derselben Quelle geschaffen - den Träumen
und den Taten der großen Ahnen -, und alle Stufen, Phasen und Zyklen waren in
der Traumzeit gleichzeitig gegenwärtig. Während die Welt Form annahm und sich
mit den Arten und vielfältigen Ausgestaltungen erfüllte, die sich aus den
Umwandlungen der Ahnen ergaben, wurden die Ahnen müde und gingen in die Erde, in
den Himmel, die Wolken und die Geschöpfe zurück, um gleich einer Kraft in allem
nachzuhallen, was sie geschaffen hatten.
Diese Wanderungen der Ahnen sind in den Geschichten, Zeremonien, Symbolen und
Lebensmustern bewahrt, die von den Aborigines seit Jahrtausenden gewissenhaft
erhalten werden. Für Stammesangehörige der Aborigines spiegelt jeder Aspekt des
täglichen Lebens die Geschichten der Schöpfung wider, die mit dem Ort
zusammenhängen, wo ihre Ahnen hinzogen oder ihr Lager aufschlugen. Jeder Tag
wird in der Erinnerung an jenen Tag gelebt, als der betreffende Ort und seine
Geschöpfe geschaffen wurden. Kultur und Gesellschaft der Aborigines zeichnen
sich deshalb durch die gleichen Merkmale aus wie die Strukturen, die Prinzipien
und die Vorgänge, durch die die Natur geschaffen worden ist.
Zwar können sich die Geschichten und Symbole verschiedener Stämme leicht
voneinander unterscheiden, aber die Geschichten der Traumzeit sind allen
Aborigines quer durch den riesigen australischen Kontinent geläufig. In diesen
Geschichten wagten die Ahnen Neues, sie nahmen beispiellose Risiken auf sich und
entdeckten dabei Bräuche, Verfahren und Verhaltensweisen, die entweder Glück und
Hilfe brachten oder aber sich in Schmerz, Zerstörung und Krankheit
niederschlugen. Die in den Geschichten enthaltenen Lebenslehren wurden im
sogenannten Traumzeit-Gesetz zusammengefaßt, und sie spiegeln sich in der
ausgesprochen schlichten Lebensweise der Aborigines wieder.
Alles Geschaffene - von den Sternen über die Menschen bis zu den Insekten - ist
am Bewußtsein der ursprünglichen Schöpfungskraft beteiligt, und jedes einzelne
ist auf seine eigene Art Spiegel einer Form dieses Bewußtseins. In diesem Sinne
bewahren die Geschichten der Traumzeit das Bild einer geeinten Welt, und diese
Einheit verpflichtete die Aborigines, die Erde zu respektieren und zu verehren,
als sei sie ein Buch, in dem das Geheimnis der ursprünglichen Schöpfung
geschrieben steht. Das Lebensziel war, die Erde soweit wie möglich in ihrer
ursprünglichen Reinheit zu bewahren. Das Domestizieren und Unterwerfen von
Pflanzen und Tieren stand ebenso wie jede andere Veränderung und Ausbeutung der
Natur - also die Grundlage der westlichen Zivilisation und des «Fortschritts» -
im absoluten Gegensatz zur Vorstellung eines gemeinsamen Bewußtseins und einer
gemeinsamen Herkunft, an denen alles Geschaffene und gleichermaßen die
Schöpferischen Ahnen teilhaben. Diese ganzheitliche Welt auszubeuten hieß nichts
anderes als sich selbst auszubeuten.
Die Geschichten der Traumzeit verliehen nicht bloß allen lebenden Wesen ein
allumfassendes psychisches Bewußtsein, sondern auch der Erde und den
Grundelementen, den Kräften und Gesetzen der Natur. Jeder Teil der Schöpfung
handelt aufgrund von Träumen und Wünschen, Anziehung und Abneigung, genau wie
wir Menschen. Deshalb war der Zugang zur großen Welt des Raumes, der Zeit und
der universellen Energien und Felder zugleich auch Zugang zur inneren Welt des
Bewußtseins und der Träume. Die Erkundung des riesigen Universums und das Wissen
um die Bedeutung der Schöpfung wurden durch eine innere und eine äußere
Erkenntnis des eigenen Ichs erfahren.
Jede Landschaftsform und Kreatur implizierte durch ihre besondere Form und ihr
Verhalten eine verborgene Bedeutung; die Form eines Dinges war selbst zugleich
der Abdruck eines metaphysischen Bewußtseins - des Bewußtseins der Ahnen -,
welches dieses Ding geschaffen hat,- als auch jener allumfassenden Energien, die
zu seiner stofflichen Abbildung geführt haben. Diese Aspekte des
Traumzeit-Schöpfungsmythos weisen auf eine Welt hin, in der das Metaphysische
und das Physische symbolisch ineinander verwoben sind: Die sichtbare Welt kann
nicht getrennt von der unsichtbaren betrachtet werden. So sind denn auch die
Sprachen der Aborigines, die aus diesem Weltbild hervorgingen, ein reicher
metaphorischer Fluß, in den ebenso körperliche wie auch seelische und geistige
Erfahrungsebenen integriert sind. Wie jeder Schöpfungsmythos lassen sich auch
die Geschichten der Traumzeit nicht beweisen. Die Bedeutung einer jeden
Schöpfungsgeschichte wird bestimmt durch ihre Wirkung auf die Menschen, durch
das Bild, das sie sich von sich selbst und ihrer Stellung im Universum machen.
Während rund einhundertfünfzigtausend Jahren hat die Traumzeit-Mythologie eine
Kultur genährt, die in Harmonie mit der Natur lebte und voller Kraft, Vitalität
und Lebensfreude war.
Auszug aus dem Buch von Robert Lawlor "Voices of the First Day"
(1991; deutsch: "Am Anfang war der Traum) |