letzte Aktualisierung: 16. Mai 2004

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Aborigines Mythen Traumzeit - Die Mythologie der Aborigines
Traumzeit:
Die Mythologie der Aborigines
Die Kultur der australischen Aborigines beruht ganz und gar auf der Erinnerung an den Ursprung des Lebens. Gemäß neuesten Erkenntnissen sind ihre Schöpfungsgeschichte und das daraus abgeleitete Weltbild rund einhundertfünfzigtausend Jahre alt.

Die Aborigines nennen die Kräfte und Mächte, die die Welt geschaffen haben, ihre «Creative Ancestors» - ihre Schöpferischen Ahnen. Sie sind der Überzeugung, daß unsere wunderbare Weit nur in Übereinstimmung mit der Kraft, der Weisheit und den Absichten dieser ersten Ahnen so perfekt geschaffen werden konnte. Während der Epoche, in der dies geschah - der Traumzeit -, bewegten sich die Ahnen über eine kahle, eintönige Fläche, ähnlich wie auch die Aborigines durch ihr riesiges Land wandern. Die Ahnen zogen hierhin und dorthin, sie jagten, schlugen ihr Lager auf, kämpften und liebten, und so schufen sie aus einem formlosen Land eine topographische Landschaft. Vor ihren Wanderungen legten sie sich schlafen und träumten die Abenteuer und Ereignisse des folgenden Tages. Auf diese Weise, indem sie ihre Träume in die Tat umsetzten, schufen die Ahnen Ameisen, Grashüpfer, Emus, Krähen, Papageien, Wallabys, Känguruhs, Echsen, Schlangen, alle Nahrung sowie die Pflanzen. Sie schufen alle Elemente der Natur, die Sonne, den Mond und die Sterne, und sie schufen auch die Menschen, die Stämme und Clans. All dies wurde von den Ahnen gleichzeitig erschaffen, und jedes Ding konnte sich in ein anderes verwandeln. Eine Pflanze konnte zu einem Tier werden, ein Tier zu einer Landschaftsform, eine Landschaftsform zu einem Mann oder einer Frau. Ein Ahne konnte zugleich Mensch und Tier sein. Diese Umwandlungen gingen hin und her, je nachdem, wie es die Geschichten der Traumzeit verlangten. Alles wurde aus derselben Quelle geschaffen - den Träumen und den Taten der großen Ahnen -, und alle Stufen, Phasen und Zyklen waren in der Traumzeit gleichzeitig gegenwärtig. Während die Welt Form annahm und sich mit den Arten und vielfältigen Ausgestaltungen erfüllte, die sich aus den Umwandlungen der Ahnen ergaben, wurden die Ahnen müde und gingen in die Erde, in den Himmel, die Wolken und die Geschöpfe zurück, um gleich einer Kraft in allem nachzuhallen, was sie geschaffen hatten.

Diese Wanderungen der Ahnen sind in den Geschichten, Zeremonien, Symbolen und Lebensmustern bewahrt, die von den Aborigines seit Jahrtausenden gewissenhaft erhalten werden. Für Stammesangehörige der Aborigines spiegelt jeder Aspekt des täglichen Lebens die Geschichten der Schöpfung wider, die mit dem Ort zusammenhängen, wo ihre Ahnen hinzogen oder ihr Lager aufschlugen. Jeder Tag wird in der Erinnerung an jenen Tag gelebt, als der betreffende Ort und seine Geschöpfe geschaffen wurden. Kultur und Gesellschaft der Aborigines zeichnen sich deshalb durch die gleichen Merkmale aus wie die Strukturen, die Prinzipien und die Vorgänge, durch die die Natur geschaffen worden ist.

Zwar können sich die Geschichten und Symbole verschiedener Stämme leicht voneinander unterscheiden, aber die Geschichten der Traumzeit sind allen Aborigines quer durch den riesigen australischen Kontinent geläufig. In diesen Geschichten wagten die Ahnen Neues, sie nahmen beispiellose Risiken auf sich und entdeckten dabei Bräuche, Verfahren und Verhaltensweisen, die entweder Glück und Hilfe brachten oder aber sich in Schmerz, Zerstörung und Krankheit niederschlugen. Die in den Geschichten enthaltenen Lebenslehren wurden im sogenannten Traumzeit-Gesetz zusammengefaßt, und sie spiegeln sich in der ausgesprochen schlichten Lebensweise der Aborigines wieder.

Alles Geschaffene - von den Sternen über die Menschen bis zu den Insekten - ist am Bewußtsein der ursprünglichen Schöpfungskraft beteiligt, und jedes einzelne ist auf seine eigene Art Spiegel einer Form dieses Bewußtseins. In diesem Sinne bewahren die Geschichten der Traumzeit das Bild einer geeinten Welt, und diese Einheit verpflichtete die Aborigines, die Erde zu respektieren und zu verehren, als sei sie ein Buch, in dem das Geheimnis der ursprünglichen Schöpfung geschrieben steht. Das Lebensziel war, die Erde soweit wie möglich in ihrer ursprünglichen Reinheit zu bewahren. Das Domestizieren und Unterwerfen von Pflanzen und Tieren stand ebenso wie jede andere Veränderung und Ausbeutung der Natur - also die Grundlage der westlichen Zivilisation und des «Fortschritts» - im absoluten Gegensatz zur Vorstellung eines gemeinsamen Bewußtseins und einer gemeinsamen Herkunft, an denen alles Geschaffene und gleichermaßen die Schöpferischen Ahnen teilhaben. Diese ganzheitliche Welt auszubeuten hieß nichts anderes als sich selbst auszubeuten.

Die Geschichten der Traumzeit verliehen nicht bloß allen lebenden Wesen ein allumfassendes psychisches Bewußtsein, sondern auch der Erde und den Grundelementen, den Kräften und Gesetzen der Natur. Jeder Teil der Schöpfung handelt aufgrund von Träumen und Wünschen, Anziehung und Abneigung, genau wie wir Menschen. Deshalb war der Zugang zur großen Welt des Raumes, der Zeit und der universellen Energien und Felder zugleich auch Zugang zur inneren Welt des Bewußtseins und der Träume. Die Erkundung des riesigen Universums und das Wissen um die Bedeutung der Schöpfung wurden durch eine innere und eine äußere Erkenntnis des eigenen Ichs erfahren.

Jede Landschaftsform und Kreatur implizierte durch ihre besondere Form und ihr Verhalten eine verborgene Bedeutung; die Form eines Dinges war selbst zugleich der Abdruck eines metaphysischen Bewußtseins - des Bewußtseins der Ahnen -, welches dieses Ding geschaffen hat,- als auch jener allumfassenden Energien, die zu seiner stofflichen Abbildung geführt haben. Diese Aspekte des Traumzeit-Schöpfungsmythos weisen auf eine Welt hin, in der das Metaphysische und das Physische symbolisch ineinander verwoben sind: Die sichtbare Welt kann nicht getrennt von der unsichtbaren betrachtet werden. So sind denn auch die Sprachen der Aborigines, die aus diesem Weltbild hervorgingen, ein reicher metaphorischer Fluß, in den ebenso körperliche wie auch seelische und geistige Erfahrungsebenen integriert sind. Wie jeder Schöpfungsmythos lassen sich auch die Geschichten der Traumzeit nicht beweisen. Die Bedeutung einer jeden Schöpfungsgeschichte wird bestimmt durch ihre Wirkung auf die Menschen, durch das Bild, das sie sich von sich selbst und ihrer Stellung im Universum machen. Während rund einhundertfünfzigtausend Jahren hat die Traumzeit-Mythologie eine Kultur genährt, die in Harmonie mit der Natur lebte und voller Kraft, Vitalität und Lebensfreude war.

Auszug aus dem Buch von Robert Lawlor "Voices of the First Day"
(1991; deutsch: "Am Anfang war der Traum)

 

 

 

 

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